Es war einmal in Schlotenland – Leben und Arbeiten im Ruhrgebiet vor 100 Jahren -

Geschichtswerkstatt für Kinder im Alter von 7 bis 11 Jahren
von Silvia Wieandt

Mit der Arbeitsform Geschichtswerkstatt beabsichtigen wir bei Kindern Geschichtsbewusstsein zu fördern und wollen ihnen einfache Formen historischen Denkens nahe bringen . Geschichtsbewusstsein hilft uns, uns in der Gegenwart zurecht zu finden sowie menschliche Erfahrungen schätzen und nutzen zu lernen.

Kinder im Grundschulalter erkennen bereits sehr gut, dass das Leben „früher“ anders war als heute und dass alles einem Wandel unterworfen ist. – Nichts bleibt wie es ist! –

Mit der Geschichtswerkstatt wollen wir Kindern helfen, gesellschaftliche Zusammenhänge zu begreifen. Die Kinder lernen zu recherchieren, zu (hinter)fragen und zu beurteilen.

Bei der Konzeption unserer Geschichtswerkstatt „Es war einmal in Schlotenland“ legen wir keinen Wert auf das Erlernen historischer Daten und Ereignisse. Unser Anliegen ist, den Kindern ein Bild von der Lebenssituation im Ruhrgebiet, also ihrer Heimat vor rund 100 Jahren zu vermitteln. Dazu haben wir uns entschieden, solche Schwerpunktthemen mit den Kindern zu bearbeiten, zu denen sie ohnehin einen Bezug haben: Leben und Arbeiten im Ruhrgebiet (1900 – 1930), Zuwanderung, Schule, Sprache und Entwicklung der Heimatstadt durch Bergbau und Schwerindustrie.

Die im Anschluss angeführten Beispiele, die verdeutlichen, wie wir die Projektschwerpunktthemen methodisch-didaktisch umgesetzt haben, sind bei weitem nicht vollständig. Es handelt sich hier immer nur um einzelne exemplarische Beispiele, die unsere Arbeitsweise „Bildungspraxis“ verdeutlichen sollen.

Neugierig machen und Vorfreude schaffen

Vor dem offiziellen Projektstart und der thematischen Arbeit mit einer Kindergruppe müssen erst einmal Kinder gefunden werden, die sich am Projekt beteiligen werden. Um die Neugierde der Kinder zu wecken, wird eine Woche vor dem Projektstart eine kleine Werbekampagne in jeder Einrichtung von den Pädagogen/Pädagoginnen gestartet.
Bei diesem Projekt erhielten die Kinder einen großen bunten Umschlag per Postzustellung in ihre Einrichtung von Frau Schaugenau. Diese Spielfigur „Frau Schaugenau“ erklärt in dem Brief ihr Anliegen, dass sie Kinder sucht, die ihr bei einer wichtigen Forschungsarbeit helfen werden. Damit die Kinder sich auf die Rahmengeschichte zum Projekt einlassen, müssen sie sich von Beginn in eine aktive Rolle einfinden können. Da bieten sich Vorgaben wie Forscher/innen, Detektive/Detektivinnen usw. an, auf die „Frau Schaugenau“ bei ihren Projekten auch gerne zurückgreift.
Weiterer Bestandteil ihres Briefes an die Kinder ist noch eine spannende Geschichte über das „Schlotenland“, die die Kinder auf das Ruhrgebiet vor 100 Jahren neugierig macht. Zum Ende des Briefes wird den Kindern für die kommende Woche (also die nächste Gruppenstunde) ein großes Paket angekündigt, das Unterlagen und viel Material für die Forschungstätigkeit in den kommenden Wochen enthalten wird. Außerdem lädt „Frau Schaugenau“ die Kinder zu einem gemeinsamen Treffen (das abschließende „Krötentreffen“ ) ein.
Brief, Geschichte und das in Aussicht gestellte Paket hatte für die Kinder solch hohen Aufforderungscharakter, dass in jeder der sieben beteiligten Häuser der offenen Tür 10 bis 12 Kinder mitgemacht haben. Alle Kinder haben kontinuierlich bis zum Projektabschluss teilgenommen.

Projektauftakt in den Einrichtungen und dezentrale Projektphase

Das Paket von Frau Schaugenau trifft ein. Die Kinder packen aus:

  • ein erstes Impulsplakat zum Ausmalen, mit Rätseln zum Thema, Platz für das Gruppenfoto, die Namen der Gruppenmitglieder usw.
  • ein Puzzle „Ruhrgebiet“, mit dem die Kinder die Umrisse der Ruhrgebietsstädte zusammensetzen können. Das fertige Puzzle soll im Gruppenraum aufgehängt werden, damit die Kinder die Lage ihrer Nachbarstädte kennen lernen und nachschauen können, wo sich die anderen Falkenhäuser befinden, die ebenfalls beim Projekt mitmachen.
  • einen präparierter Zollstock um den Zeitraum von 100 Jahren zu verdeutlichen. Jeweils 2 Zentimeter markieren ein Jahr. Der Zollstock wird im Gruppenraum aufgehängt und die Kinder können ihr Geburtsjahr vermerken, dass Geburtsjahr der Eltern usw. Um den Kindern die zeitliche Dimension sichtbar zu machen, bekommen sie vorbereitete Kärtchen mit den Jahreszahlen einiger wichtiger historischer Ereignisse mitgeliefert, die an den Zollstock angehängt werden. So können sie sich sprichwörtlich ein Bild machen, wie lang der Zeitraum von 100 Jahren ist.

Für jedes Schwerpunktthema (Leben und Arbeiten im Ruhrgebiet, Zuwanderung, Sprache und Entwicklung der Städte) erhielten die Kinder ein separates Impulsplakat (A2-Größe), das im Gruppenraum aufgehängt wird und sichtbar die Arbeitsergebnisse der Kinder dokumentiert. Damit jedes Kind die gemeinsamen Arbeitsergebnisse der Gruppe individuell zur Verfügung hat, bekommen alle eine eigene Arbeitsmappe – „das Schlotenland-Album“. in die sie ihre Arbeitsblätter aufbewahren können. So gestaltet jedes Kind während des Projektverlaufes ein eigenes Album. Der Aktendeckel des „Schlotenland-Albums“ wird während einer Gruppenstunde individuell von jedem Kind nach Belieben gestaltet.

Leben und Arbeiten im Ruhrgebiet vor 100 Jahren

Damit die Projektarbeit für die Kinder lebendig und spannend wird, nutzen wir die museumspädagogischen Angebote der Westfälischen Industriemuseen und integrieren sie in unseren Projektablauf.

Der Themenschwerpunkt „Arbeiten im Ruhrgebiet vor 100 Jahren“ wurde über diese Angebote komplett und sehr anschaulich erarbeitet.

  • Zeche Nachtigall in Witten: Das Geheimnis der schwarzen Diamanten (Geschichte des Steinkohlebergbaus)
  • Zeche Knirps – Kinderbergwerk auf der Zeche Hannover in Bochum-Hordel (Arbeitsabläufe im Bergwerk spielerisch erfahren)
  • Zeche Zollern, Dortmund (Geschichte des Ruhrbergbaus und Raumerfahrung im Dunkeln)
  • Westfälisches Freilichtmuseum in Hagen (Nagelschmiede, Papiermühle, Druckerei, Ölmühle, Windmühle)
  • Dauerausstellung: Arbeit und Alltag um 1900. Industrie- und Sozialgeschichte des Ruhrgebietes im Ruhrlandmuseum Essen
  • Rallye durch den Landschaftspark Duisburg-Nord

Alle o.g. museumspädagogischen Angebote sind ausnahmslos weiterzuempfehlen.

Besuche der Industriemuseen wurden beim jeweils nächsten Gruppentreffen der kleinen Forscher und Forscherinnen noch einmal nachgearbeitet. Dazu haben wir mit Materialien gearbeitet, die wir zum großen Teil für dieses Projekt selbst entwickelt haben.

Brettspiel für zwei Gruppen „Vom Kanarienvogel zum Bergwerksbesitzer“

Hier ein Beispiel, um bestimmte Begriffe, Vorgänge usw. bei den Kindern zu wiederholen und zu festigen: Unser Brettspiel für zwei Gruppen „Vom Kanarienvogel zum Bergwerksbesitzer“ . Das Spielfeld ist ein Foto vom Gasometer in Oberhausen. Die einzelnen Etagen, die es zu erklimmen gilt sind a) Kanarienvogel, b) Lehrling, c) Hauer, d) Maschinist, e) Steiger, f) Zahlmeister, g) Bergwerksbesitzer.
Spielaufgabe: Die Gruppe, deren Kinder die meisten Knöpfe an der Kleidung haben fängt an. Sie ziehen eine Aufgabenkarte. Bei richtiger Beantwortung der Frage klettert die Gruppe mit ihrer Spielfigur die Karriereleiter nach oben. Bei falscher Antwort bleibt die Spielfigur stehen.

Hier drei Fragenbeispiele mit den Antwortmöglichkeiten:
Wie lautet der Bergmannsgruß?
a) Petri heil
b) Glück auf
c) Schluck auf

Welches Tier wird als Rennpferd des Bergmannes bezeichnet?
a) Ein gelber Kanarienvogel
b) Das Grubenpferd
c) Die Taube

Was sind Pellmänner?
a) Eine früher sehr bekannte Boygroup aus dem Ruhrgebiet
b) Mit Schale gekochte Kartoffeln
c) Bergleute in ihren Sonntagsanzügen (Wie aus dem Ei gepellt).
usw. usw.

Bei der Zusammenstellung von Fragen und Antwortmöglichkeiten hatten wir mindestens so viel Spaß, wie die Kids beim Quizspiel.
Die gestellten Fragen bedeuten nicht unbedingt eine große Herausforderung für die Kinder, aber das Spiel gefiel ihnen gut und sie merkten sich die Begriffe und deren Bedeutung, auf die es uns ankam, einfach spielerisch nebenbei.

„Leben im Ruhrgebiet vor 100 Jahren“

Zum Thema „Leben im Ruhrgebiet vor 100 Jahren“ haben jeweils Kindergruppen aus zwei Einrichtungen gemeinsam die eingangs erwähnte Dauerausstellung „Arbeit und Leben um 1900“ im Ruhrlandmuseum Essen besucht.
Während der folgenden Gruppenstunde werden die geballten Informationen noch einmal nachgearbeitet, dazu nutzten wir auch das Fotomaterial des Ausstellungskataloges.

Beispiel: Wie waren die Wohnungen der Leute ausgestattet? Wieviel Platz hatten die Menschen in ihrer Wohnung / ihrem Haus? Wieviele Menschen lebten gemeinsam in der Wohnung / im Haus usw. Wie sahen die sanitären Anlagen aus (kein Strom, kein fließendes Wasser, Plumpsklo auf dem Hof, usw.)

Damit die Kinder die beengte Wohnsituation und die Mehrfachnutzung der Wohnräume (z. B. Kochen, Wohnen und Schlafen in einem Raum) nachvollziehen konnten, wurde gemeinsam mit den Kindern ein Zimmer in der eigenen Einrichtung mit Hilfe von Papierschablonen im Originalmaßstab nachgebaut und einfach ausprobiert, wieviel Platz den Menschen zur Verfügung stand.

Um die Mühen der häuslichen Arbeit zu veranschaulichen, haben wir mit den Kindern in der Zinkwanne mit einem Waschbrett Bettwäsche gewaschen. Da wird zuerst das Wasser im Einkochkessel auf dem Herd (in Ermangelung eines Kohleofens musste leider der Elektroherd genutzt werden) erhitzt, Kernseife für die Lauge aufgelöst, die Wäsche eingeweicht und dann dürfen alle Kinder das Bettlaken auf dem Waschbrett rubbeln. Wo es das Wetter zulässt, wird das Wäschestück sogar auf dem Rasen vor der OT gebleicht!

Essen hält Leib und Seele zusammen – aber arme Leute kochen „Arme-Leute-Gerichte“. Wir haben in alten Kochbüchern und -rezeptsammelungen nachgeschlagen und z. B. verschiedene Kappes -Gerichte mit den Kindern gekocht und selbstverständlich die Speisen auch anschließend als gemeinsame Mahlzeit gefuttert. Die „Bratwurst“ aus Weißkohl ist für die Kinder schon ziemlich exotisch – aber schmeckte trotzdem.

Zuwanderung ins Revier

In der Zeit von 1890 bis 1914 kamen ca. 800.000 Zuwanderer meist aus Osteuropa ins Ruhrgebiet. Weil unsere Einrichtungen heute viele Kinder mit Zuwanderungsgeschichte besuchen und einige davon auch bei diesem Projekt beteiligt waren, haben wir das Thema Zuwanderung in die Projektarbeit aufgenommen. Wir haben Impulse in Form eines Stammbaumes vorbereitet und mit den Kindern deren Familienherkunft erforscht. Da wundert sich so manches Kind, dass die eigenen Urgroßeltern aus dem heutigen Polen stammen oder aus der Slowakei ins Revier gekommen sind und es nicht nur in den letzten 40 Jahren Zuwanderung gegeben hat.

Schule vor 100 Jahren

Wie sahen die Klassenräume und Schulbänke aus? Wieviele Kinder saßen in einem Klassenzimmer? Welches Schreibmaterial und welche Lernmittel standen zur Verfügung? Wie unterrichteten die Lehrer die Kinder?
Auch hier haben wir mit alten Fotos von Schulklassen und Klassenzimmern gearbeitet. Thematisiert wurde die Rolle des Lehrers, der autoritäre Frontalunterricht, die Verhaltensregeln für die Schüler/innen sowie die drakonischen Prügelstrafen, die zum Schulalltag gehören.

Das Schreiben mit dem Griffel auf der Schiefertafel und mit dem Federhalter und Tinte aus dem Fass auf liniertem Papier ist eine Aufgabe der Kinder zu diesem Themenschwerpunkt. Wir stellen ihnen das Alphabet in Deutscher Schrift vor. Die Kinder erhalten Feder und Tinte, entsprechend liniertes Papier und ein Muster des Deutsche Schrift-Alphabetes (gelehrt bis ca. 1920 an deutschen Schulen) sowie die Anleitung zur Handhabung der Schreibgeräte.
Das Schreiben mit dem Griffel auf der Schiefertafel konnte in der Gruppe von jedem Kind ausprobiert werden. Wir hatten pro Gruppe eine Schiefertafel und einen Griffel zur Verfügung.
Mit viel Eifer haben die Kinder die Buchstaben der deutschen Schrift geübt und die gestellte Aufgabe „jedes Kind schreibt den eigenen Vor- und Nachnamen und die Adresse in Deutscher Schrift auf Papier“ mit Bravour gelöst.

Kleiner Ausflug ins Ruhrdeutsch – Sprache im Ruhrgebiet

Zur Einführung des Themas „Sprache im Ruhrgebiet“ erhielten die Kinder ein Impulsplakat mit einem Silbenrätsel. Die Aufgabe: Begriffe unter Verwendung der vorgegebenen Silben ins Ruhrdeutsch übersetzen.
1. Leitungswasser Kraneberger
2. Hausschuhe Schluffen
usw.
Die anschließende Anregung, möglichst viele Ruhrpottbegriffe und deren Bedeutung aufzuschreiben, nahmen die Kinder mit viel Engagement auf. Einige Kindergruppen haben sich sogar ein eigenes kleines Ruhrpottwörterbuch zusammengestellt.

Entwicklung der Heimatstadt durch die Schwerindustrie

Um diesen Themenschwerpunkt mit den Kindern zu bearbeiten haben, wir mit den Gruppen u.a. die örtlichen Heimatmuseen besucht, mit ihnen historisches Kartenmaterial studiert, verglichen wo es z. B. früher Siedlungen, Zechen oder Stahlwerke gab und was heute auf dem Gelände steht. Wir haben Stadt(teil)- Aufgabenrallyes ausgearbeitet und mit den Kindern durchgeführt usw.

Projektabschluss – Das „Kinder Krötentreffen“

Projekthöhepunkt für die Kinder ist das Wochenende an dem alle Kinder aus den beteiligten Einrichtungen zur abschließenden Spielaktion zusammenkommen. Die Spielaktion bündelt die Themen, die während der dezentralen Projektphase in den Gruppen bearbeitet wurden und spricht die meisten mit anderer Methode noch mal an.

Zeitreise ins Jahr 1900