Falkenforscher: Mieke und die Kinderrechte - Archivpädagogik mit Jugendlichen aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

von Alexander Schwitanski

Mittels eigener Bildungsanstrengungen an der eigenen Emanzipation zu arbeiten gehört zu den Traditionen der organisierten Arbeiterjugendbewegung. Auch das Archiv der Arbeiterjugendbewegung ist selbst Produkt und Teil dieser Tradition. Dem entsprechend liegt es für das Archiv der Arbeiterjugendbewegung nahe, auch in der Jugendbildung tätig zu sein.

Da das Archiv aber mit seinen bundesweiten und internationalen Beständen nicht auf lokale und regionale Identitäten rekurrieren kann, musste die Ansprache von Jugendlichen über andere Bezüge stattfinden. Ausgehend von der Einsicht, dass niemand ein Archiv nutzt, der nicht ein Interesse damit verfolgt, wollten wir Jugendliche bei ihren eigenen Interessen abholen und wählten so als Oberthema die Kinderrechte. Anhand der Kinderrechte konnten die Jugendlichen ihre eigenen Interessen formulieren. Die historische Arbeit in dem Bereich der Kinderrechte sollte historische Differenzerfahrung ermöglichen, aber auch zeigen, dass der Kampf um die Umsetzung von Kinderrechten und damit der Kampf um die eigenen Interessen eine lange Tradition hat. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte sollte so die Möglichkeit bieten, auch zum eigenen gesellschaftlichen Engagement zu ermuntern. Darüber hinaus sollte die Zusammenarbeit mit dem Archiv grundlegende und übertragbare Kompetenzen bei der Informationsbeschaffung und dem Umgang mit einer kulturellen Institution vermitteln und so wichtiges, alltagsrelevantes Wissen vermitteln.

Rahmenorganisation

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes kamen aus den o. g. Kinder- und Jugendzentren, deren Pädagogische Fachkräfte maßgeblich sowohl an der Projektentwicklung und natürlich an der praktischen Umsetzung mit den Jugendlichen in der eigenen Einrichtung beteiligt waren.
Die Altersspanne war mit Beteiligten zwischen 11 und 16 Jahren recht breit, doch lag der Schwerpunkt bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen 12 und 14 Jahren. Vernetzt wurden die Häuser über das Falken Bildungs- und Freizeitwerk NRW (FBF), das die zentrale Koordination übernahm und zusammen mit der Bildungsabteilung des Salvador-Allende-Hauses (SAH) das Projekt pädagogisch mit betreute. Die einzelnen Gruppen entschieden vor Ort über ihre jeweiligen Themenschwerpunkte im Rahmen des Oberthemas und bearbeiteten ihre Themen selbständig und mit selbstgewählten Methoden. Dabei wurden sie vor Ort von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Häuser betreut. Zum Start des Projekts erhielten alle Gruppen einen Koffer mit Material, welches Anregungen für die eigenen Methoden und Themen bot.

Zur Ansprache der Jugendlichen wurde eine Figur etabliert, die zum Logo des ganzen Projekts wurde. Mieke Meier, eine Comicfigur aus der Kinderfreundebewegung der 1920er-Jahre, wurde dazu grafisch modernisiert. Die Gegenüberstellung der originalen Mieke mit der modernisierten erlaubte so einen direkten Zugang zur Geschichte. Im Namen von Mieke Meier wurden die Gruppenkoffer zusammen mit einem Brief geschickt, der das Projekt einläutete. Mieke Meier tauchte im weiteren Projektverlauf immer wieder auf, z.B. als Logo auf den Internetseiten, als Ansprechpartner mit eigener Emailadresse oder als lebensgroße Figur im Archiv.

Geplant war außerdem, dass die einzelnen Gruppen sich über ihre Arbeit austauschen sollten. Dazu war vorgesehen, die Internetplattform des Archivs, insbesondere das Wiki der Falconpedia zu nutzen. Abschließend war ein Zusammentreffen aller Teilnehmer an einem Wochenende im Archiv der Arbeiterjugendbewegung geplant.

Umsetzung

Während der dezentralen Phase fanden mehrere Zusammenkünfte mit Vertreter(inne)n der verschiedenen Häuser der offenen Tür, dem FBF NRW und Salvador-Allende-Hauses statt. Entsprechend der jeweils gewählten Herangehensweise entschieden sich die Gruppen, zum Beispiel eine Zeitzeugenbefragung durchzuführen, um sich über Kindheit und Schule in der frühen Bundesrepublik zu informieren, oder bastelten Schuhkartonmuseen zum Thema Kinderrechte. Andere beschäftigten sich mit der sozialen Lage von Arbeiterjugendlichen im Kaiserreich und erforschten die Gründungsmotive der Arbeiterjugendbewegung, während eine weitere Gruppe sich mit dem Recht auf Freizeit beschäftigte und dazu eine Stadtteilerkundung mit der Erstellung einer Fotogalerie über die Situation von Spiel- und Freizeitorten vornahm.
In der zentralen Phase im Archiv der Arbeiterjugendbewegung trafen sich schließlich dreißig Teilnehmer/-innen sowie ihre Helfer/-innen, darunter viele ältere Jugendliche, die nun ehrenamtlich mitwirkten. Neben vielen Kooperationsspielen wurde die Thematik Kinderrechte spielerisch vertieft und das Archiv vorgestellt. Verschiedene Stationen boten vom auch körperlich zu erfahrenden Suchen bis zum Quiz zur Geschichte der Arbeiterjugendbewegung Gelegenheit zur Beschäftigung mit der Materie. Für die Absolvierung der Stationen erhielten die Gruppen Teile eines Puzzles, das zum Schluss von allen gemeinsam zusammengesetzt wurde.

Der Einstieg in das Archiv wurde über die Thematisierung der Ordnung geleistet. Den Jugendlichen wurde vermittelt, dass zu allem Wissen die Systematisierung desselben gehört und dass Archive somit nicht nur Orte des Aufbewahrens sind, sondern Wissenskonstrukteure. Gelernt werden konnte, dass der Zugang zu dem unübersichtlichen Wissensangebot mittels strukturierter Verzeichnisse möglich ist. Praktisch wurde dies anhand des Katalogs des Archivs der Arbeiterjugendbewegung eingeübt. Anhand der von den Jugendlichen zu leistenden Beschreibung historischer Fotografien mussten diese im Katalog des Archivs aufgespürt werden. Die Signaturen leiteten zu den begehrten Puzzleteilen weiter. Im Umgang mit dem Fotobestand lernten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zudem, mit den Beständen achtsam umzugehen. Wollten sie das Ergebnis ihrer Recherche am Bild auf seine Richtigkeit überprüfen, waren vorschriftsmäßig Handschuhe zu tragen.

Probleme

Die Arbeitsgruppen bildeten sich nach den Sommerferien 2008 neu, das Zugehörigkeitsgefühl der Teilnehmer/-innen war teilweise fluide. Dies machte partiell längere Gruppenfindungsphasen nötig, weswegen sich die Aufnahme der Tätigkeit bei einigen Gruppen verzögerte.
Die eigentlich erwartete Nutzung des Internets als Kommunikations- und Präsentationsmedium ergab sich nicht. Teilweise bestand bei den Teilnehmern Unlust, sich überhaupt mit diesem Medium zu beschäftigen, teilweise wurde das Internet zwar zur Informationsbeschaffung genutzt, aber der Schritt zur selbständigen Informationsproduktion wurde noch nicht vollzogen. Ein Grund dafür mag sein, dass auch Medienkompetenz bei den Angehörigen unterschiedlicher Bildungswege unterschiedlich gegeben ist. Die Mehrzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts besuchte Gesamtschulen, einige die Förder- und Hauptschule, wenige ein Gymnasium.

Was bleibt

Die Rückmeldungen aus den Gruppen nach Durchführung des zentralen Wochenendes im Archiv der Arbeiterjugendbewegung machen deutlich, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Projekt positiv aufgenommen haben. Sie haben einen Begriff dessen entwickelt, was ein Archiv ist und die vorhandene Schwellenangst vor dieser Institution abgebaut. Es konnte positiv erfahren werden, dass auch sie ihre Interessen in einem Archiv wiederfinden konnten. Wir hoffen, dass diese Erfahrungen auf andere Kulturinstitutionen wie die örtliche Stadtbücherei übertragen werden und der gelernte Umgang mit einem elektronischen Katalog auch dort weiterhilft. Wie wichtig dieses Ergebnis ist zeigt der spontane Ausruf einer Teilnehmerin im Magazin des Archivs, ihre Mutter werde sie auslachen, wenn sie ihr davon erzähle, weil sie sicher die erste in der Familie sei, die jemals in einer solchen Bildungseinrichtung gewesen sei. Hier wurde offensichtlich ein erster Schritt getan, eine bereits generationell verfestigte Ferne zu klassischen Bildungseinrichtungen aufzubrechen. Wichtig war auch die unmittelbare Berührung mit dem Material. Gerade einige derjenigen, die den theoretischen Teil im Archiv nur mit sichtbarem Widerwillen ertrugen, waren geradezu rührend besorgt im Umgang mit alten Fotografien und brachten dem Material sichtlich Achtung entgegen. So wundert es nicht, wenn aus einigen Gruppen der Wunsch nach einer Weiterführung des Projekts geäußert wurde.

Aus den aufgetretenen Problemen nehmen wir vor allem mit, dass es mehr Zeit und zentraler Anleitung und Betreuung bedarf, wenn Arbeitsergebnisse in schriftlicher Form dokumentiert und im Internet veröffentlicht werden sollen. Die Technik eines Wiki bedeutet eine nicht zu unterschätzende Hürde. Dass die Jugendlichen aber bereit und in der Lage sind, konstruktiv tätig zu sein, zeigen die vielen nichtschriftlichen Arbeitsergebnisse und ein Lied, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des zentralen Wochenendes zusammen dichteten und in dem sie die Geschichte der Arbeiterjugendbewegung mit ihrer eigenen Situation und ihrer Tätigkeit als Falkenforscher verknüpften.
Letztlich konnte, nach übereinstimmender Auskunft der örtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein wichtiger Effekt erzielt werden: Die Jugendlichen lernten, dass eine Veränderung der Lebensumstände gemäß der eigenen Interessen möglich ist und sie in diesem Bestreben nicht allein sind.